Zittern für Opa

Guernica, Picasso
Als mein Großvater in den zweiten Weltkrieg einrücken musste, wollte er nicht. Ich habe ihn nie kennengelernt – er ist gestorben, bevor ich geboren wurde – aber wenn er auch nur ein bisschen wie mein Vater war, dann muss er ein gutherziger, sensibler Mann gewesen sein. Warum hätte er also Lust auf Krieg haben sollen? Die Knie meines Opas müssen geschlottert haben vor Angst. „Scheiß auf die Ehre! Ich will nicht sterben! Ich will da nicht hin! Ich will zuhause bleiben, wo es schön ist und sicher!“

Aber weil mein Opa ein Mann war, konnte er es natürlich nicht so ausdrücken, denn als Mann Angst zu haben war nicht angebracht damals. Gefühle hat man nicht – man(n) beißt sich durch und stellt sich seiner männlichen Verantwortung. Und es gab ja auch niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können. Die Atmosphäre im Dorf war infiziert von Nazigewäsch, die Menschen misstrauten einander. Und so wurde auch meinem Opa zugeflüstert: „Du musst gehen! Spinn nicht rum. Du musst gehen, denn sonst kommen sie und erschießen dich!“ Also ging er. Sein Körper zitterte und bebte und der Widerwillen füllte seinen Bauch mit Ekel. Aber er ging. Er erfüllte seine Pflicht und überlebte.

Wenig wird in meiner Familie darüber geredet, was im Krieg geschah. Es ist eine große schwarze Lücke und nur mein Großvater selbst weiß, was er erlebt hat. Das wird einfach so hingenommen. Ist das nicht merkwürdig? Vielleicht hat er niemanden getötet, niemanden sterben gesehen. Vermutlich schon. Ich weiß es nicht.

Aber als er zurückkam, wurde weitergemacht, wie bisher. Niemand, der anbot: „Komm, ruh dich aus, das muss ja schrecklich gewesen sein.“ Niemand, der ihm sagte: „Wenn du weinen oder schreien willst, dann tu es, so lange du willst.“ Sondern zum Misstrauen im Dorf kam auch noch Scham und Schuld hinzu, als die Bevölkerung merkte, was sie in einer Art kollektiven Psychose anderen Menschen angetan hatten.

Und so wurde alles runtergedrückt.

Doch der Krieg ist noch gar nicht so lange her. Und heute wissen wir, dass die Wunden, die damals entstanden, an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, genetisch, emotional, sozial. Die Angst, die Todesangst, die damals real war, sie lebt in unseren Zellen weiter.

Mir geht es in diesem Text nicht um Täter- und Opferschaft. Mir ist bewusst, dass mein Opa auf der Seite der Täter, der Nationalsozialisten, gekämpft hat. Ich will das Leid der Opfer des Holocaust und der vielen Zivilisten nicht kleinreden, nichts vergleichen, nichts verdrängen. Mein Herz brennt, wenn ich auch nur eine Fingerspitze in den roten Sumpf der Geschehnisse tauche. Aber mein Opa, dieser Mann, den ich nie kennengelernt habe, der meinen Vater und meine Onkel großzog, er war nicht nur ein Täter, er war auch ein Opfer. Er wollte nicht in den Krieg. Er musste.

Es ist leicht mit dem Zeigefinger auf eine ganze psychotische Menschenmasse zu zeigen und sie als Bestien zu verschmähen. Schuldzuweisung passiert wie von alleine und fühlt sich befriedigend an, aber Schuld ist auch eine toxische, unechte Empfindung, die die Realität verdreht. Niemand trägt Schuld für irgendwas. Niemand ist böse. Wir sind alle nur blinde Kinder. Wir sind alle nur wilde Tiere, die irgendwann auf den falschen Pfad geraten sind.

Es ist schwieriger, das unfassbare Leiden zu spüren, das hinter diesen Taten steckt.  Das ist kein Appell dafür, Menschen wie Hitler einfach nur eine warme Umarmung zu geben. Aber niemand der glücklich ist, will andere Menschen abschlachten. Das ist keine Täter-Opfer-Umkehr und keine Rechtfertigung für Geschehnisse. Nur die ernstgemeinte Frage ob Schuld uns Menschen jemals irgendwohin geführt hat. Man kann mir Wohlstandsgerede und Desillusionierung vorwerfen und zynische Menschen werden das vielleicht tun. Aber ich spüre die Angst und die Verzweiflung meines Großvaters in meinen Knochen. Das ist keine Metapher, das ist körperlich. Es ist nicht meine Angst, aber es ist mein Erbe.

Also zittere ich an seiner statt. Ich habe eine Wahl, die er nie hatte. Kein Krieg. Sondern Frieden.

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