„I saw a terrible vision the day before the one they call Apollo came. I saw what was inconceivable then in the days of innocence, when a woman’s body was holy and whole as the safron crocus, and her sons beloved for their generosity, their way with animals, their lithe speed in footraces, and not for their cleverness at war. In that vision I saw beyond conquest, far beyond, to another kind of brokenness. I saw into desolation of a terrible forgetting. When even the names were dead, and the Oracle a ruin visited but not believed. To be conquered is one thing. To be silenced until the silence itself is forgotten is to be left without the dark blessing of rebirth that lives at the center of the world.“
Our Lady of the Dark Country, Sylvia V. Linsteadt
Man mag archäologischen Funden Hoffnung schenken und an eine matrilineare Zeit in Europa glauben, in der die Menschen einen Göttinnenglauben hatten und freie und unabhängige Wesen waren, deren Demut der weiblich betrachteten Erde galt, die nährt und Leben schenkt. Die Forschungslage lässt zu, es auch anders zu interpretieren und zum Beispiel Höhlenmalereien und Skulpturen von nackten Frauen nicht als Fruchtbarkeitssymbol, sondern als frühzeitlichen Porno wahrzunehmen.
Es bleibt mir bei meinem Prozess von Wieder-Spüren und der Auflösung einer jahrtausendelangen Entfremdung vom Leben jedoch nichts anderes übrig, als jene Narrative zu betrachten, die sich wahr für mich anfühlen: Dass es in Europa prä-patriarchale und zyklisch lebende Kulturen gab, die hier durch den Wald stromerten, aßen, ihre Toten bestatteten und friedlich waren, bevor die Römer und die Griechen Europa zivilisierten, respektive kolonialisierten. Ich gebe mich dem Narrativ hin, dass es friedlich bei diesen europäischen Indigenen war – nicht perfekt, natürlich nicht, gestorben wird immer und der Tod ist eine ernste Sache, aber in meiner Vorstellung gab es dieses absurde, taube Leben nicht, in dem wir heute gefangen zu sein scheinen. Ja ich denke, dass es irgendwann einmal gut war, bevor das Christentum ins Land zog, bevor der Kapitalismus uns alle in seinen Bann zog, und ganz sicher auch vor der neolithischen Revolution, vielleicht auch vor den Kelten und Germanen, wo das Leben sogar noch rauer, noch tödlicher – noch purer war. Mythen und Geschichten deuten es an, aber auch unsere Knochen flüstern von einer Zeit, in der die Menschen noch lebendige, verbundene, magische Wesen waren. Man darf sich nur nicht von der Doktrin der analytischen Gehirnhälfte ablenken lassen, die als Beweis mehr verlangt, als den nichtsprachlichen Schimmer von Wahrheit.
Doch ich bin auch meine Ahnen der letzten Jahrhunderte: Das 20. Jahrhundert etwa, das zwei Kriege mit sich brachte, die, wenn man den Worten der Alten glaubt, den Zauber der Elfen vom Land vertrieben. Lange davor begann bereits die Unterwerfung der Natur, die Domestizierung von Mensch und Tier, die Verschmutzung von Luft, Wasser und Erde. Die falsch verstandene Feuerenergie: aus dem wärmespendenden Lagerfeuer wurde die Hitze, mit der Maschinen und Kriege betrieben wurden. Mit der Unterdrückung der Sexualität durch falsch verstandenes Christentum und die Hexenverbrennungen ging das letzte bisschen erhaltenes Wissen verloren.
Ja, Europa steht verloren da. Ich will nichts gutreden oder wie so oft zustimmen, dass ja nicht “alles schlecht” sei. Zivilisation, Fortschritt, Medizin, Wissenschaft, Demokratie. Es stimmt, weder Kreativität noch Neugierde, noch der Wille des Menschen zum Gutsein lässt sich je ganz unterdrücken. Aber: Hier und heute herrscht strukturelle Gewalt. Sie ist gerade (auch) ein Symptom dieses linearen Entwicklungsdenkens; ein Narrativ, das zu glauben wir gewählt haben. Dieser Entwicklungsmythos ist im Kern rassistisch, wenn er behauptet, Zivilisation und Entwicklung wären das eigentliche Ziel der Menschheit. Dieser Mythos lässt auch eigentlich kluge Menschenwesen sehr dumme Dinge glauben: Selbst jetzt noch setzen manche bezüglich der Klimakrise ihre Hoffnung einzig in die Entwicklung von Technologie.
Ich weiß nicht, was das “Ursprungstrauma” ist, das den Hunger des weißen Mannes, der weißen Frau, ausgelöst hat und sie veranlasste, durch die ganze Welt zu ziehen, vor sich selbst wegzurennen und sich überall auszubreiten. Dieser Hunger meiner Ahnen, der mir in den Knochen steckt… Diese spirituelle Verlorenheit, diese unter vielen Schichten verborgene Sehnsucht nach echter Gemeinschaft und nach einem Wertesystem, das man nicht auf Instagram verkauft bekommt.
Der Kapitalismus hat längst unsere Körper durchdrungen, es gibt kein Leben außerhalb davon. Die Ungerechtigkeit dieses Systems, die Entmündigung und Verdummung eines Großteils der Menschen, die Häme, die von manchen “Mächtigen” ausgeht, ist ekelerregend. Von einer Revolution ist dennoch weit und breit nichts zu sehen. Eine große Hoffnungslosigkeit hat sich ausgebreitet. Rückzug ins Private. Hedonismus. Netflix und Chill. Der Planet brennt, brennt, brennt und niemand weiß, was zu tun ist.
Aber… wir sind auch unsere Ahnen vor diesem Fall aus dem Paradies. Wir sind unsere Ahnen, die kraftvoll, weise und gut sind. Die mit der Natur lebten und nicht gegen sie. Wir sind auch diese Ahnen. Die, die sich zu helfen wussten. Die, die nicht mehr von der Natur nahmen, als sie geben wollte. Die, die dankbar und demütig waren und die, die an das Wohl der Generationen nach ihnen dachten. Steckt dieses alte Wissen nicht auch in unseren Knochen? Tief, tief in unseren Körpern, unter der Haut, eingeschrieben in unsere Zellen, rauschend durch unser Blut… Müsste das Wissen nicht stärker sein, als ein paar Jahrtausende Leiden und Kulturgeschichte?
Ich weiß es nicht, aber ich ahne es (das Verb „ahnen“ kommt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet „es überkommt mich“). Wir haben keine Tradition, die uns lehrt, mit den Toten zu reden. Weiß ich, ob meine weisen Ahnen mir wirklich etwas zuflüstern oder ob es meine Phantasie ist? Weiß ich, ob ich nicht eigentlich nur eine verrückte Feministin bin, die es sich mit diesem Matriarchats-Narrativ weiter in ihrer vermeintlich kolonisierten Opferrolle bequem machen möchte, statt sich ihrer eigentlichen Priviliegien bewusst zu werden? Ich weiß nichts, aber ich AHNE etwas, und zwar in jenem meta-sprachlichen Raum, in dem die Kommunikation mit den AHNEN möglich ist. Es überkommt mich. Nicht als Metapher, sondern wirklich. Als phänomenologische Erfahrung, die ernstgenommen werden muss, weil man sonst jegliche Realität wegwischen könnte.
Ich gehe mit Fragen in diese Räume: Wie finden wir Rituale wieder, ohne uns an den indigenen Traditionen anderer Kontinente zu bedienen (die trotz aller Widrigkeiten noch intakt sind)? Wie können wir Zeremonien gestalten, ohne einfach alles neu zu erfinden? Wir lernen wir, unser Land zu lieben (das Land, NICHT die Nation, die nur eine willkürliche und von Gewalt durchdrungene Exklusivität ist)?
Rausgehen, flüstert es als Antwort. Die Namen der Pflanzen wieder lernen. Sie freundlich begrüßen. Hallo Kastanie, hallo Weißdorn. Den Müll von den Wiesen und aus dem Wasser fischen. Jahreskreise feiern. Versuchen, Menschen zu lieben, die mindestens genauso verkorkst und traumatisiert sind, wie man selbst, und die deswegen auch nicht wissen, wie Gemeinschaft, geschweige denn Beziehung geht. Lieder singen. Sich in Dankbarkeit üben. Tanzen und den Leib um jeden Preis spüren, denn in ihm verborgen liegen alle Geheimnisse, von früher, von heute und vom dem, wie es vielleicht mal sein könnte.